1910
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3. Mai 1910
Baumblütensonntag. Verschiedene Anzeichen der letzten Woche ließen gelinde Zweifel auftauchen, daß der eigentliche Baumblütensonntag in diesem Jahre illusorisch werden würde. Aber der Erfolg des gestrigen Sonntags hat glücklicherweise alle Bedenken zunichte gemacht zum Segen der hiesigen Geschäftswelt, namentlich der Berglokale, die umfangreiche Vorkehrungen zur Bewirtung der Gäste getroffen hatten. Schon die Frühzüge brachten zahlreiche Gäste, so daß sich der Verkehr immer mehr steigerte und mit dem Eintreffen der Sonderzüge seinen Höhepunkt erreicht haben dürfte. Das Wetter war besonders günstig, lachender Sonnenschein strahlte den ganzen Tag mit geringen Unterbrechungen hernieder und versetzte die Gäste, deren Zahl wohl über 5000 gewesen sein dürfte, in die angenehmste Stimmung. Am Bahnhof herrschte ein großer Andrang, der nach Eintreffen des Berliner Sonderzuges einen hier seltenen Umfang annahm. Pünktlich um 9 Uhr 21 Minuten fuhr der Sonderzug aus Berlin ein und schon ehe er zum Stehen gebracht war, erklangen durch die Luthersche Kapelle flotte Begrüßungsweisen. Als sich der Zug entleert hatte, setzte sich die Kapelle an die Spitze und geleitete die Teilnehmer mit Musik in den Garten des Hotel „Kronprinz“. Hier wurden die alten Freunde begrüßt und neue Bekanntschaften geschlossen, überall sah man kleine Gruppen von Personen, die sich freundlich lächelnd die Hand schüttelten. Nachdem sich die Gäste von der Fahrt durch einen Imbiß und frischen Trunk gestärkt hatten, ergriff Herr Stadtrat Zabel das Wort zu einer Begrüßungsansprache namens der Stadt. Er pries die unversiegbare Liebe und die Sehnsucht zu unserer lieben alten Heimatstadt, die durch den alljährlich sich steigernden Besuch immer wieder aufs neue zum Ausdruck kommen. Seine Worte klangen, nachdem er dem Verein der Gubener für die mühevollen Vorbereitungen gedankt hatte, in ein Hoch auf die Stadt Guben aus. Hieran schloß sich eine Ansprache des Vorsitzenden des Vereins der Gubener, Herrn Koch, in der er die alte Treue der ehemaligen Gubener versicherte. Nachdem man noch die Sonderzüge aus Frankfurt a. O., Cottbus und Forst abgewartet hatte, teilten sich die zahlreichen Gäste in vier Gruppen und unter ortskundiger Führung nahmen sie nach verschiedenen Richtungen hin ihren Rundgang auf. Verschiedene Gesellschaften hatten sich ebenfalls hier ein Stelldichein gegeben; so bemerkten wir den Verein Mark Brandenburg, eine größere Anzahl Buchhändler aus den Städten der Lausitz mit ihren Damen, Radfahrvereine usw. – Die Berggassen wurden von früh an nicht leer, lebhaft plaudernde und scherzende Spaziergänger wogten in großer Zahl hindurch, auch die Berglokale waren infolgedessen alle überfüllt und mit Befriedigung dürften die Besitzer auf den geschäftlichen Erfolg zurückblicken. Daß naturgemäß auch der Verkehr in den Straßen der Stadt ein großer war und alle Verkehrsmittel in Betrieb gesetzt wurden, soll nicht unerwähnt bleiben. Gegen Abend machten sich zahlreiche Freunde eines guten Obstweines auf, sich an ihm an der weitbekannten Quelle, der Kelterei Poetko, gütlich zu tun. Auf dem Hofe, ähnlich dem Müchener Hofbräuhaus, waren Tonnen aufgestellt, um die herum es lebhaft zuging. Unaufhörlich floß der Apfelwein aus seinen großen Fässern und labte die vom Spaziergang trocken gewordenen Kehlen. Auch verschiedene Sektkorken knallten unter Jubel in die Luft. – Haben wir nun bis hierher wohl alles pflichtgemäß registriert, so bleibt noch zu erwähnen, daß unzählige Gäste mit photographischen Apparaten ausgerüstet waren und die Stadt Guben dürfte selten so oft geknipst worden sein wie gestern. Hoffentlich halten die gemachten Aufnahmen die Erinnerung an den gestrigen Sonntag bis zum nächsten Jahre wach und veranlassen alle Gäste, im nächsten Jahr wiederzukommen und noch mehr Freunde mitzubringen. - Abends hatten sich die Gäste in der ganzen Stadt zerstreut und erst die Abfahrt der Züge vereinigte alle wieder am Bahnhof, wo wiederum ein kolossaler Andrang wogte. Allen Gästen rufen wir ein frohes Wiedersehen im nächsten Jahr zu!
4. Mai 1910
Eisenbahnunterführung in der Kupferhammermühle. Gestern weilten auf dem hiesigen Bahnhofe Kommissare der zuständigen Eisenbahn- und Staatsverwaltungsbehörden, um das vor einiger Zeit in Anregung gebrachte und von uns mitgeteilte Projekt zur Herstellung einer Unterführung unter die Eisenbahn in der Nähe des Eisenbahnüberganges zwischen Kupferhammermühle und Grunewald im Anschluß an die Uferstraße (Köhlers Pappfabrik) örtlich zu prüfen und zu erörtern. Die Anlage einer solchen Unterführung würde für die zahlreichen Fuhrwerke aus Grunewald und den dahinter liegenden Ortschaften im Verkehr mit Guben, dem Bahnhof und der Güterabfertigung eine bedeutende Erleichterung und Zeitersparnis bringen.
5. Mai 1910
Die Baumblüte in Guben scheint in Berlin namentlich von dem Berliner Tageblatt etwas scheel betrachtet zu werden. Zu einer Betrachtung „Frühling in Berlin“ lesen wir u. a. folgenden Absatz: „Der Berliner hat untrügliche Anzeichen dafür, wenn der Frühling wirklich gekommen ist, Anzeichen, die alt und von der Tradition geheiligt sind. Frühling ist für den Berliner - wenn die Baumblüte begonnen hat und die ersten Sonderzüge nach Werder abgelassen werden. Sie sind, besonders Sonntags, beinahe so überfüllt wie die ersten Ferienzüge nach der Ostsee. Denn das Bedürfnis nach Naturgenuß bricht bei dem Berliner nach der langen Entbehrung des Winters mit einer elementaren Gewalt durch, die noch erhöht wird durch die Aussicht auf den realeren Genuß der süßen Obstweine, die so süffig die Kehle hinuntergleiten, daß man seinen Rausch erst merkt, wenn es zu spät ist. Jedermanns Sache ist dieses sonntägliche „Naturkneipen“ im sonst so stillen Werder denn auch nicht. Und wie verwöhntere Globetrottler über das plebejisch gewordene Monte Carlo verdächtig die Nase rümpfen und weiter südwärts, gen Ägypten, ziehen, so gibt es anspruchsvollere Berliner Frühlingsfreunde, die zur Baumblüte, statt nach dem nahen Werder zwei Stunden weit nach dem hübschen lausitzischen Städtchen Guben fahren, von dem sie vorher nur wußten, daß es in der Herstellung von Filzhüten sehr achtbares leistet.“ – Es ist nur gut, daß es in der Hauptsache Berliner Gäste sind, die unparteiisch ihr Urteil dahin abgegeben haben, daß Werder schön, Guben aber weit schöner ist. Demzufolge ist es niemand zu verdenken, wenn er das Schönere aufsucht, sobald ihm Gelegenheit geboten ist.
11. Mai 1910
Ein etwa 6jähriger Hirsch wurde von Anwohnern in der Reichenbacher Feldmark, in der Nähe der Bethanienstraße, gesehen. Das Tier graste dort fröhlich umher, und als es merkte, daß es beobachtet wurde, suchte es in der Richtung nach der Klostermühle das Weite.
14. Mai 1910
Beseitigung eines alten Zopfes. Eine wichtige Polizeiverordnung des Oberpräsidenten für die Provinz Brandenburg wird soeben veröffentlicht. Sie dürfte namentlich unsere Geschäftsleute interessieren, da sie eine wichtige Änderung bezüglich des Verhängens der Schaufenster und der Schaukästen bringt. Die bisherigen Bestimmungen hierüber werden aufgehoben und anstelle der alten Vorschriften treten folgende: „ Das offene Aushängen und Aufstellen von Waren in und vor den Ladentüren ist an Sonn- und Feiertagen nur während der zulässigen Verkaufszeiten gestattet. Außerhalb dieser Zeiten müssen die Ladentüren geschlossen sein. Schaufenster und Schaukästen sind während der Stunden des Hauptgottesdienstes zu verhängen.“ Es brauchen also jetzt die Schaufenster etc. nur während der Stunden des Hauptgottesdienstes verhängt zu werden, können also während der übrigen Zeit unverhängt bleiben. Die neue Polizeiverordnung dürfte einem langgehegten Wunsche der Kaufleute und Ladeninhaber entsprechen und von diesen mit großer Genugtuung begrüßt werden, sind sie jetzt doch sicher vor gefährlichen Denunzianten…